Literarische Reportage
für REPORTAGEN (#51, Februar 2020), veröffentlicht unter dem Namen “Mein nackter Großonkel” - gefördert durch das Mohammed-Beganovich Stipendium, präsentiert auf dem Literaturfest Bern.
Er galt als großbürgerliches Genie, wollte in Harvard die Welt retten und ging dann über 20 Jahre verschollen. Er fasst seit 45 Jahren kein Geld an und schweigt seit über 10 Jahren. Ein Versuch meinen vermeintlich schizophrenen Großonkel zu verstehen. Eine Chronik unserer ersten Begegnung und seiner Odyssee über Zermatt, Israel und Indien.
Happy Deathday
Er galt als großbürgerliches Genie, wollte in Harvard die Welt retten und ging dann über 20 Jahre verschollen. Er fasst seit 45 Jahren kein Geld an und schweigt seit über 10 Jahren. Ein Versuch meinen vermeintlich schizophrenen Großonkel zu verstehen. Eine Chronik unserer ersten Begegnung und seiner Odyssee über Zermatt, Israel und Indien.
München, 2017
In einem Wust an Dokumenten, zwischen unsentimentalen, floskelhaften Briefen ihrer Mutter und unsentimentalen, floskelhaften Briefen ihres Vaters, finde ich einen in winzigen Grossbuchstaben eng beschriebenen Umschlag. Unter der Briefmarke, die einen katholischen Heiligen zeigt, steht: JEDE RELIGION BELEIDIGT DIE HEILIGKEIT DER UNIVERSELLEN NATUR. Daneben eine selbstgebastelte «Freimarke». Auf der anderen Seite sticht folgender Satz heraus: WIR MÖGEN ES NICHT WIE EIN TIER BEHANDELT ZU WERDEN, ABER SEHR OFT HABEN WIR ES GENOSSEN IN DER POSITION EINES HUNDES ZU SEIN, DER VON HINTEN PENETRIERT WIRD. WIR SIND NICHT NUR WAS WIR ESSEN, SONDERN AUCH, WAS WIR VERSTEHEN.
In dem Umschlag ein Blatt, das beidseitig und lückenlos vollgeschrieben ist. Ineinanderrieselnde, überbordende Paragrafen. Der Anfang ist sanft: LIEBE VIRGINIA, AM 29.12.13 UM 03:40 ANZUFANGEN AN DICH ZU SCHREIBEN IST DAS ERGEBNIS VON LANGEM AN DICH DENKEN. Darauf folgen gemalte «Zellen», die den Tumor im Kopf meiner Mutter repräsentieren sollen. Philipp befiehlt ihnen, RUHE ZU GEBEN.
Die Zellen haben keine Ruhe gegeben. Meine Geschwister und ich räumen die Wohnung leer, in der wir aufgewachsen sind. Es sind Wochen des Vergessens. Emotionsvernichtende, erinnerungsvernichtende Trauer. Die Verdrängung, die mit dem frühen Tod meiner Mutter einhergeht, fühlt sich giftig an.
Der Autor des Briefes ist mein Grossonkel Philipp. Er fasst seit 45 Jahren kein Geld an, hat aufgehört zu sprechen, ist hyperintelligent und hat wieder eine nackte Phase. Das ist alles, was ich über ihn weiss. Und da ist das Wort «schizophren» – es schien bezogen auf ihn immer alles zu sagen.
Der spielerische, liebevolle Ton in seinem Brief erinnert mich an meine Mutter, die an der autoritären Kälte ihrer Familie krankte. Eine konventionstreue, grossbürgerliche Familie, die meinen jugoslawischen Vater nie akzeptierte. Und die mir als Kind das Gefühl gab, dass in allem, was ich tat, ein Fauxpas lauerte.
Wer ist dieser Nackte? Und was kann er mir erzählen?
Madrid, 2018
Ein Jahr später stehe ich vor einer halboffenen Haustür in einem kleinen, feuchten Innenhof in Madrid, dahinter die Schemen eines höhlenartigen Raumes. Ich weiss lange nicht, ob ich klopfen oder eintreten soll, beides scheint respektlos. Dann steht er plötzlich da, der nackte, grosse, alte Mann. Der Menschensohn. Das Menschenwesen. Der Mensch. Wie er sich wahlweise nennt. Er lächelt ein gütiges Lächeln und schweigt, wie er es mittlerweile seit über acht Jahren tut.
Gelblich-weisses Haar und ein bis zur Brust reichender Bart umwehen seinen markanten Kopf. Lange Schamhaare bedecken seinen Penis vollständig – man kann nur spekulieren, ob er überhaupt da ist –, darunter der abstrus in die Länge gezogenen Sack eines 79 Jahre alten Mannes. Er macht eine Tischlampe an einem Sofa an, die einzige Lichtquelle in dem zu allen Seiten mit Teppichen und Tüchern verhängten Raum.
Mit den überzogenen Gesten eines Pantomimen zeigt er mir, wo ich meine Jacke aufhängen soll, und deutet auf meine Schuhe, die ich hastig ausziehe – mein Onkel, der ihm aus dem Nachlass meiner Oma die Wohnung zahlt, hat mich gewarnt, dass er Sonnenbrillen, Hüte, Zigaretten und Schuhe kategorisch ablehnt. Ich setze mich neben ihn aufs Sofa. Seine Gesichtszüge bleiben in dem fahlen Licht stark karikiert. Da sind die lauernden blauen Augen Kinskis, da sind Mick Jaggers geschwollene Lippen, da sind tiefe, wütende Falten.
Ich fühle mich nicht wohl. Frage mich, was ich hier mache. Irgendwie wollte ich wissen, ob ich diesem Mann ähnele, ob er meiner Mutter ähnelt, ob ich hier nicht doch noch ein Gefühl von Familie finde. Und ich wollte auch: eine absurde Geschichte erzählen. Also arbeiten, funktionieren, mich ablenken. Ablenken von der Tatsache, dass der Tod plötzlich greifbar, plötzlich präsent, plötzlich alltäglich geworden ist. Ich hoffe, das Menschenwesen merkt das nicht.
Er schlägt eine Seite eines lückenlos vollgeschriebenen Notizbuches auf und führt einen Eintrag mit einem pinkfarbenen Fineliner fort. Er fordert mich auf, die Worte während des Schreibens laut vorzulesen:
DAVID KOMMT UM 12:30 WIE ANGEKÜNDIGT AN. WIR HOFFEN, ER IST BEREIT, MIT UND FÜR UNS ZU ARBEITEN.
Osnabrück, 1960
Philipp Oliver Cecil Mark Axel August Alexander Schorsch hat existenzielle Zweifel – an seinem grossspurigen Auftreten, dem Bürgertum, und, nach ersten Erfahrungen mit Männern, an seiner Sexualität. Auch die Angst vor Mittelmässigkeit treibt ihn um. Der elegante 22-jährige Jura-Student und Frauenschwarm nimmt sich eine zweimonatige Auszeit in einem benediktinischen Kloster bei Osnabrück, wo er krampfhaft Tagebuch führt, um dem Sinn seines Lebens in philosophischen Gedankenspielen auf die Schliche zu kommen. Er findet die klaren Antworten, die er sucht, nicht, fühlt sich, als hätte er eine Gummischnur im Rücken, die ihn zurückzieht, sobald er einen Schritt nach vorn gemacht hat. «Mein Verlangen nach Sinn wächst in dem Masse, in dem sich die Erkenntnis durchsetzt, ihn unmöglich zu finden.»
Als Teenager hat er sich lange Zeit von Gott auserkoren gefühlt, schwelgte in Phantasien eigener Wunder – er fragt sich in diesem Sommer im Kloster, warum. Er geht mit den noch anhaltenden Nachwehen dieses Gefühls der Vorsehung hart ins Gericht. Sein Tagebuch liest sich, als schreibe er für ein Publikum.
Allein das rustikale Essen und Bach, den er über ein mitgebrachtes Radio unablässig hört, bringen ihm in dieser Zeit wirklich Erfüllung («Es lebe Johann Sebastian! (…) Wäre doch alles so schön und sinnvoll wie diese Musik»). Drei Mönche erliegen in diesen Monaten seinem Charme und machen ihm sexuelle Avancen – ein Umstand, der ihm lästig ist. Dass er sich in seinem Tagesablauf vor allem auf die Mahlzeiten freut, empfindet er irgendwann als Schwäche, als Ablenkung, als Teil eines ihm innewohnenden Hedonismus, der ihn von Grösserem abhält. Er fastet vier Tage, um seinem Verstand mehr Klarheit zu verschaffen. Philipp ist angetan von seiner Standhaftigkeit. Ab und zu isst er Trockenpflaumen, den Kern behält er immer länger im Mund, um ein Gefühl der Sättigung hervorzurufen. Während der Fastenzeit nimmt er kaum noch am sozialen Leben im Kloster teil. Am 6. Oktober 1960 schreibt er:
«Wie furchtbar muss es sein von aller Welt als Aussätziger behandelt zu werden, wie furchtbar muss es sein nicht verstanden zu werden. Alle würden den Kopf schütteln, vielleicht mitleidig lächeln, während es mir todernst ist.»
Madrid, 2018
Seine Nacktheit spielt schnell keine Rolle mehr. Genauso wenig wie die Idee einer linearen Konversation oder Geschichte. Simultanität bestimmt seine Gedankenwelt und so auch meinen Tag in dieser vielleicht 15 Quadratmeter grossen Höhle, seinem mit Zetteln, Malereien, Büchern und alten Zeitungen vollgepackten Reich. Er schreibt mittlerweile seinen Teil der Konversation auf die Seiten eines «Provinzkrimis» namens «Die Kartoffelknödelgeschichte» – warum er diesen Groschenroman gewählt hat, weiss ich nicht, ihn scheint der Titel weder zu interessieren noch zu belustigen. Ich lese seine auf Englisch, Spanisch und Deutsch geschriebenen Ausführungen laut vor, während aus dem Nebenzimmer immer wieder ein ruckartiges Schnarchen dringt.
Um mir eine schon erzählte, also schon geschriebene Geschichte zu erzählen, holt er oft eines seiner etlichen vollgeschriebenen Notizbücher hervor, weiss sofort, wo die Stelle ist, und lässt mich vorlesen. Ich erzähle mir selber Geschichten, die ich nicht kenne. Wie die Geschichte seiner Isolationshaft in einem Gefängnis in Karachi, wo er gelandet ist, weil er den Tod Allahs ausrief und wollte, dass seine Mithäftlinge es ihm gleichtun. Er macht die Affen nach, die an seinem Zellenfenster vorbeikamen und ihm aus Mitleid Gesellschaft leisteten. Sie belustigen ihn noch heute, diese Affen. Das Menschenwesen wirkt jetzt schrullig, sympathisch. NACH EIN PAAR TAGEN EINZELHAFT BIST DU SOGAR DANKBAR WENN EIN TIER DICH BESUCHT. Ich glaube ihm aufs Wort.
Drei von Tausenden Briefen des “Menschenwesens” an seine Schwester.
Zwischen weiteren Geschichten, die sich vor allem um seine unterschiedlichen Madrider Strassenbekanntschaften drehen und oft zu antiautoritären, antimaterialistischen Parabeln werden, entdeckt er dreimal das Wort Scheisse in dem gedruckten Text des Provinzkrimis und umkreist es ganz beiläufig mit seinem Stift. Beim dritten Mal schreibt er SCHON WIEDER daneben. Ich finde das lustig, was ihm nicht gefällt. Der nackte Mann hat nur Humor, wenn er ihn gestattet. Er bezieht sich im Verlauf des geschrieben-gesprochenen Gesprächs immer wieder auf die Space-Station Earth (S.S.E.) oder Raumstation Erde (R.S.E.), auf der man eine Funktion einnehmen muss, um weitere Greueltaten der Menschheit zu verhindern. Er präsidiert über den Auswahlprozess für die Besatzung der S.S.E., indem er nummerierte Pässe ausstellt. Dafür muss man die drei Prioritäten in seinem Leben auf einen Zettel schreiben.
Ich versuche vorsichtig, das Gespräch zu lenken, mehr über sein Schweigegelübde aus ihm herauszulocken, doch egal wie taktisch ich vorgehe, wie indirekt ich frage, er durchschaut mich sofort. WIR GEBEN KEINE INTERVIEWS. Er wird im Laufe des Gesprächs dreimal zurückblättern und mit seinem Zeigefinger auf diese Aussage deuten. Irgendwann schreibt er: WIE HAST DU MARINA ERLEBT? Endlich eine Frage, die Offenheit in sich zu tragen scheint. Ich rede über die Strenge meiner Grossmutter Marina und den Widerspruch zwischen ihren konservativen Werten und ihrer Freigeistigkeit als Künstlerin. Meine Antwort gefällt ihm nicht. Er lacht ein stummes, spöttisches Lachen, das durch die fehlenden Laute noch sardonischer wirkt. Die Unbarmherzigkeit einer Karikatur. Darauf: WAS BIST DU? Jetzt wird es metaphysisch. Bevor ich anfange, mich in philosophischem Nonsens zu ereifern, beantwortet er die Frage für mich: FRECH. UNVERSCHÄMT. EIGENNÜTZIG. Zu meinem Unglauben beschäftigt mich diese Aussage, trifft mich. Die überproportionale Macht von Familie – sogar wenn sie von einem unbekannten, nackten Mann ausgeht. Ich frage mich, ob er ein bisschen recht hat. Und gleichzeitig kann ich ihn nicht ernst nehmen. Unverschämt. Wieso sollte ich Scham vor dem Nackten haben? Er schreibt, meine Oma habe immer gesagt, dass meine Mutter ihre Kinder so erzogen habe, dass sie nicht erzogen seien. Ich werde innerlich ein wenig trotzig, was sich äusserlich aufgrund meiner journalistischen, das heisst opportunistischen, Vorsicht nur in mehr Selbstironie zeigt. Das spürt er sofort. Für ihn ist Ironie nichts anderes als Selbstherrlichkeit, zu der er auch meinen Hang, viel zu gestikulieren, zählt. Deswegen verabscheut er Hüte, Sonnenbrillen und Zigaretten – physische Manifestationen einer selbstgerechten, unehrlichen Gesellschaft. WARUM STARBEN JESUS, BUDDHA USW.? Pause. SIE REDETEN ZU VIEL. Fühlt sich wie eine Drohung an. Oder es ist eine Begründung seines Schweigens.
Cambridge/Massachusetts, 1967
Dreiteiler aus edler Schurwolle, gestärktes, weisses Hemd, dazu eine Fliege und manchmal eine Melone. Die Dunhill-Pfeife hängt mühelos aus einem Mund, der sich gern und oft zu einem widerspenstigen Lächeln verzieht. So viel grossbürgerliche Extravaganz sticht zu Hippie-Zeiten auch an der Harvard Business School heraus. Der 29-jährige Doktorand, der 1967 mit einem Vollstipendium an die Eliteuni kommt, fällt gern auf. Vor allem dort, wo etwas passiert, wo die wichtigen Leute sich tummeln. Und das tun sie hier, denn die Harvard Business School ist eng an die Wall Street angebunden. Philipp hat eine breitgefächerte Bildung, die sich einem tiefgreifenden Fokus verweigert, kann auf Französisch, Russisch und Englisch über klassische Musik, Architektur, aber auch die Stahlindustrie rhetorisch gewandt konversieren, spielt Flöte, ist ein waghalsiger Skifahrer und Schürzenjäger. Seine Selbstzweifel scheinen verflogen. George Dyas, ein britischer Kommilitone, bezeichnet ihn als einen «Renaissance-Mann des 20. Jahrhunderts».
Hyperneugierig macht Philipp sich einen gefälschten Presseausweis und schmuggelt sich unter anderem in die Republican National Convention in Miami Beach, als Nixon 1968 zum Präsidentschaftskandidaten gewählt wird – nur um da gewesen zu sein. In den Folgejahren nimmt er an mehreren Streiks und Protesten gegen den Vietnamkrieg teil. Eine klare politische Haltung entwickelt er dabei nie, verkehrt mit Linken wie mit Konservativen. Und doch infizieren die Ideale der Hippies ihn schnell – ihn, der schon immer Sex von der Liebe und dem Geschlecht trennen kann, von der Ehe sowieso.
Er lernt Timothy Leary kennen, den ehemaligen Harvard-Dozenten und Pionier der psychologischen Anwendung von LSD. Wo er ein Jahr zuvor seinem Vater noch über bevorstehende Wertpapiergeschäfte schrieb und sich auf die «schönen Rosinen des international business» freute, spricht er in einem Brief im Mai 1970 das erste Mal von der «Verödung des Einzelnen in der Konsumgesellschaft». Der explosive Generationenkonflikt dieser Zeit findet langsam Einzug in sein Privatleben und in seine Psyche.
Er hat ein Verhältnis mit der 18-jährigen Tochter eines bekannten Bostoner Arztes, der mit dem Dekan der Business School befreundet ist. Danach hat er ein Verhältnis mit ihrer 16-jährigen Schwester, was seinem Leben eine prägende Wendung gibt: Ihr Vater droht, dafür zu sorgen, dass er deportiert wird, wenn er seine Tochter weiterhin sieht. Im November 1971 wird der 33-jährige Student wegen fehlenden akademischen Fortschritts der Uni verwiesen. Er ist sich sicher, dass der einflussreiche Vater des Mädchens dahintersteckt. Philipp sieht sich genötigt, radikal gegen eine, wie er sagt, rein moralische Entscheidung vorzugehen, gegen eine Gesinnungsjustiz einer alten Garde, die von ihm die «Aufrechterhaltung des Status quo» verlange. Seiner Schwester Marina, einer Malerin, zu der er ein inniges Verhältnis hat, schreibt er, dass die Gesellschaft seine Anpassung erzwingen, ihn förmlich kastrieren wolle, da die Kastrierten es nicht aushalten, einen Potenten in ihren Reihen zu wissen. Das könne er nicht zulassen.
Er tritt in einen Hungerstreik. Am 47. Tag, dem 16. Februar 1972, langhaarig und bis zu den Knochen abgemagert, droht Philipp dem Dekan, dass er sich vom Gebäude seines Büros werfen werde. Er verteilt täglich Flugblätter. Über sein Anliegen wird mittlerweile auf dem ganzen Campus diskutiert. Seit dem 1. Januar hat er vielleicht eine Handvoll Aprikosen gegessen, den Kern behält er immer länger im Mund, um ein Gefühl der Sättigung hervorzurufen.
Statt zu warten bis ich kollabiere und im Krankenhaus lande. Oder statt mich aus Versehen beim Autofahren umzubringen und euch so mit einer unbeabsichtigten Rationalisierung zu entlasten, kann ich mich genauso gut auf spektakuläre Weise selber umbringen, solange ich die Energie dazu habe. Ihr werdet meinen Suizid durch eure Untätigkeit verantwortet haben und ihr werdet alle Hoffnung für euch und eure Kinder töten.
Diesem letzten Flugblatt, bevor er aufhört zu hungern, setzt er erklärend und fast stolz voran, dass es auf LSD verfasst worden sei. Am Ende belässt er es bei den Drohungen. Kurz darauf wird sein Antrag auf Bleiberecht von der amerikanischen Einwanderungsbehörde abgelehnt. Am 18. März, dem Tag seiner angedrohten Deportation, kehrt er, abgehalftert und geschlagen, nach Europa zurück. Seine Odyssee beginnt.
«Wenn du so willst, kam mein Körper auf einmal auf die Idee, sich das Bein zu brechen, um der Welt deutlich kundzutun, wie verdammt alleine ich bin, um ein bisschen Mitleid zu erringen», schreibt Philipp Ende März seiner Schwester aus einem Spital in Zermatt. Zurück in Europa, hat er sich wieder in alten Freuden versucht und sich direkt am ersten Tag beim Skifahren das Bein gebrochen. Er spricht davon, sich deindividualisieren zu wollen, um mit «möglichst vielen so viel wie möglich gemeinsam zu haben». Gleichzeitig hadert er mit einer ihn determinierenden Herkunft. «Ich sehe einen guten Teil meiner Selbst in Dir (…) und auch davor habe ich Angst und möchte es nicht wahrhaben, schreie: Nein, nein, ich bin anders, will anders sein. Und bin doch ein Teil davon.» In diesem Brief schreibt er erstmals an einigen Stellen «wir», wenn er von sich selber redet.
Drei Monate vergehen. Dann taucht er unverhofft im Landhaus seiner Eltern bei Krefeld auf und verkündet, dass sie ihn nie wiedersehen würden. «Auf Nimmerwiedersehen», sagt er. Dann ist er weg.
Eine Woche später erhält seine Schwester Marina drei Abschiedsbriefe, jeweils adressiert an ihren Mann, einen millionenschweren Banker, ihre zwei ältesten Kinder und an sie. Er lässt ihr die Wahl, die Briefe und den darin enthaltenen «Sprengstoff» weiterzugeben oder nicht. In dem Brief an ihren Ehemann erzählt er ihm als Kampfansage an eine lügende Gesellschaft von den Seitensprüngen seiner Ehefrau. Er ermutigt ihn dazu, die Wahrheit zu leben, sich zu befreien, wünscht ihm weniger «als Rücksicht getarnte Feigheit». Der längste und sentimentalste Brief geht an seine Schwester:
Das ist die letzte Nachricht die du von mir bekommst. Was du mit ihr machst ist deine Sache. Ich halte es nicht mehr aus. Du selbst hast bis jetzt nicht den Mut gehabt. Vielleicht hilft dir diese Einladung, vielleicht wirst du sie verbrennen. (…) Natürlich liebe ich dich und wenn ich dich je wiedersehe, würde ich gerne mit dir schlafen, obwohl das nicht so wichtig ist, aber all das ist kein Grund zu dir oder irgendjemanden zurückzugehen. (…) Ich wünsche dir alles und weine ein bisschen, aber es hat kein Zweck sentimental zu werden, denn damit ändern wir nichts. Betrachte mich verschollen.
Ein halbes Jahr später wird Philipp von einem Bekannten der Familie in der Nähe von Tel Aviv gesehen. Er wohne dort in einer Höhle am Strand, und Leute, vor allem Frauen, würden sich um ihn scharen. In den folgenden sechs Jahren dann: nichts.
Madrid, 2018
Nach vier Stunden, bevor er ein SPÄTSTÜCK zubereiten will, verkünde ich, dass ich ein wenig frische Luft schnappen wolle. Er schüttelt den Kopf. DAMIT SCHLIESST DU DICH AUS. Nur fünf Minuten, ich bin gleich wieder da. WENN DU DEN GEDANKENFADEN ABSCHNEIDEST AUS PURER WILLKÜR KANNST DU DEN FADEN NICHT WIEDER ANKNÜPFEN. Ich mag es nicht, wenn mir Menschen etwas verbieten, frage ihn, wie er denn mit seiner eigenen antiautoritären Haltung so autoritär sein könne. Doch der Menschensohn bewegt sich jenseits von Widersprüchen, sie haben einen festen Platz in der Gleichzeitigkeit seines Denkens, in seinem hysterischen Bewusstsein. Seine sonst so kleinen, gleichförmigen Grossbuchstaben jetzt gross und krakelig: DEIN HOCHMUT VERDIENT EINEN TIEFEN FALL. Ich schaue ihn schweigend an, ein bedrohtes und gleichzeitig drohendes Funkeln sticht aus seinen Augen, seine Unterlippe steht angespannt von seinem halboffenen Mund ab. Der nackte Mann macht mir Angst. Ich bleibe. Füge mich, vielleicht aus Opportunismus, vielleicht aus Hörigkeit, vielleicht wegen des strengen Blicks meiner Grossmutter, den er in seinen Augen trägt.
Wir gehen für das «Spätstück» in die Küche, wo ich am Fenster kurz frische Luft schnappen darf und aus dem autoritären Guru schlagartig der gutmütige alte Mann wird, der mir vor einigen Stunden die Tür aufgemacht hat. Er zeigt mir geduldig, wie ich etwas zu schneiden habe. Ähnlich seiner Gestik sind seine Bewegungen hier effektiv und grob. Er ersticht eine Salattüte und zerhackt die Salatblätter direkt im Anschluss in der Tüte. Er mischt das Grünzeug mit Trauben, Erdbeerjoghurt, Mayonnaise, Serranoschinken, Banane und QUARK, wie er auf meine Nachfrage, was das sei, mangels eines Zettels mit seinem Finger mehrmals auf die Küchentheke schreibt. Dazu gibt es aufgeschnittene Hackfleisch-Empanadas, die er mit geriebener Banane, Käse und Quittengelee belegt und im Ofen warm macht.
Als wir uns auf den Boden setzen, um gemeinsam aus einer Schale und von einem Teller zu essen, hievt sich eine kleine, ungefähr fünfzig Jahre alte philippinische Frau ins Zimmer. Auf ihrem viereckigen Körper ein mondrunder Kopf, den ein breites, schelmisches Grinsen halbiert. Myrna strahlt die Unbekümmertheit eines Zirkusmenschen aus. Aufgrund eines Schlaganfalls hinkt ihre ganze linke Seite hinterher. Es bedarf eines schwerfälligen Abrollens über ihren gesunden rechten Arm, damit sie auf dem Boden zum Sitzen kommt. Sie freut sich über mein Kommen, freut sich darüber, dass ich mit Mr. Collins arbeiten wolle. Myrna nennt ihn Mr. Collins, weil er immer einen Collins-Dictionary hervorholt, um ihr Begriffe zu erklären. Die Anwesenheit eines einschätzbaren Menschen fühlt sich gut an. Mr. Collins kommuniziert mit ihr, indem er mit seinem Zeigefinger auf sein linkes Schienbein wie auf eine längliche Tafel schreibt, wobei sie in Echtzeit mitliest.
Er hat während des Essens mit einer in Schutzfolie eingewickelten Fernbedienung einen kleinen, in Schutzfolie eingewickelten Fernseher angeschaltet, auf dem er hochkonzentriert ein britisches Naturprogramm über Geparden schaut. Er will, dass wir es ihm gleichtun. Ich versuche, mich mit Myrna zu unterhalten, was das Menschenwesen stört. EITHER EAT AND LEARN FROM NATURE (er zeigt auf den Fernseher) OR WORK FOR AND WITH US BUT NOT EAT AND TALK. Dann kratzt er mit seinem Löffel die Reste aus der Schale und füttert mit der völlig ironiefreien Ernsthaftigkeit eines Priesters erst Myrna und dann mich.
Kalkutta, 1979
Es ist ein Samstagvormittag im frühen August 1979 vor dem deutschen Konsulat in Kalkutta. Ein magerer 41-jähriger Mann mit einem bauchlangen Bart, dem sein einziges Besitztum, ein dreckiges Leinentuch, von der Lende hängt, schreitet über den getrimmten Rasen vor dem weissen Kolonialgebäude. Ohne einen Laut von sich zu geben, schreibt er dem Portier in Grossbuchstaben und in deutscher Sprache auf einen Zettel, dass er gern mit dem Konsul reden würde. Er wolle wissen, ob sein Vater noch am Leben sei. Hinweise des Portiers, dass das Konsulat geschlossen sei, beeindrucken den Stummen nicht.
Jürgen Fischer, ein hoher Konsulatsangestellter, wird aus seinem nahe gelegenen Haus gerufen und lädt ihn zu sich nach Hause ein. Sie essen gemeinsam Mittag und trinken Bier. Fischer redet, der Mann schreibt. Es entsteht ein angeregter Austausch über klassische Musik, der aufseiten des Mannes mehrere Zettel stichwortartig füllt. Fischer tut sich schwer, der perfekt eingeübten Kommunikationsweise des Mannes zu folgen, der zwischen Zetteln hin und her springt und manchmal angefangene Sätze mit einem Rückverweis auf zuvor gemachte Aussagen auf einem anderen Zettel vervollständigt, um der Geschwindigkeit eines verbalen Gesprächs nahezukommen. Als der Konsulatsangestellte die Matthäus-Passion von Bach auflegt, ist der Mann den Tränen nahe.
Während dieser Begegnung erwähnt der Mann seinen Plan, mit seiner Familie Kontakt aufzunehmen, nicht mehr, genauso wenig wie seinen Namen. Seine Identität scheint ihm belanglos, lästig, nicht existent. Bevor der Stumme sich verabschiedet, um den Bus 17A zum grossen Bahnhof in Haora zu nehmen und sechs weitere Jahre zu verschwinden, schreibt er noch einige lose Worte zwischen Fetzen des vorangegangenen Gesprächs:
VON 05.07.38 AN 03.11.35
MISS YOU ALL
GIVE LOVE TO 12.10.00 IF STILL ALIVE AND TREAT CHILDREN AS SISTERS NOT AS A MOTHER.
WENN DU LUST HAST SCHICKE MESSAGE AN:
MARINA WUTTKE
℅ M.M WELSBURG
HH
FERDINANDSTR.
Seine Schwester in Hamburg weint vor Glück, als sie den bekritzelten Schnipsel in der Hand hält, küsst die Worte «Miss you all». In einem Brief, den sie dem Konsulat schickt und von dem sie nicht weiss, ob er Philipp je erreichen wird, redet auch sie ihn mit seinem Geburtsdatum an: «Lieber 05.07.38». Eine Geste, um seiner Identitätslosigkeit Verständnis entgegenzubringen, um vorsichtig Kontakt aufzunehmen. Sie berichtet von den verschiedenen Studiengängen ihrer vier Kinder, ihrer Scheidung und dem schlechten Gesundheitszustand ihrer Eltern.
Sie glauben nicht, dass du je wieder hier leben wirst, aber sie sehnen sich dich in den Arm zu nehmen, dich zu streicheln. Ich möchte von dir in den Arm genommen werden und nichts sagen (…) Es wäre so bitter, wenn es zu spät wäre in diesem Leben. Love from 03.11.35
Zwei Jahre vergehen ohne ein Lebenszeichen. Ein Schweizer Rucksacktourist namens Andreas Gürtler spricht beim Konsulat in Kalkutta vor. Er habe aufgrund eines fehlenden Visums einige Nächte in einem Gefängnis in Assam zubringen müssen und dort einen grossen, wortkargen Deutschen kennengelernt, der von sich im Plural sprach und niemandem seinen Namen oder seine Herkunft verriet. Der Deutsche war zu diesem Zeitpunkt schon seit mehr als eineinhalb Jahren eingesperrt, eine Entlassung schien ihn nicht zu kümmern – dafür hätte er sich nur ausweisen müssen. Aus bürokratischen Gründen wurde auch er im Zuge der Entlassung des Schweizers freigelassen und verschwand in den Wirren des Bahnhofs von Guwahati. Auf diese Nachricht hin platziert seine Schwester Anzeigen in den grössten indischen Tageszeitungen und kontaktiert Privatdetektive, um ihn aufzuspüren. Vergeblich.
Vier Jahre später will der Bettelmönch gefunden werden. Er taucht wieder beim deutschen Konsulat in Kalkutta auf – und bleibt. Er wird drei Wochen auf der Veranda im Hinterhaus einquartiert, redet ununterbrochen, erzählt von indischen Psychiatrien, von Bandwürmern, die ihn während einer monatelangen, ihn dem Tod nahebringenden Meditation im Dschungel befallen haben, von acht Jahren des Schweigens. Einmal ist er den Tränen nahe, als ein geplantes Ferngespräch mit seiner Schwester nicht zustande kommt. Ob er wirklich zurückkehren wird, lässt er bis zum 14. Oktober 1985 offen. Dann steigt er mit einem Passersatz in die Bangladesh-Airlines-Maschine BG 692 nach Dhaka, von dort mit der BG001 nach London und dann weiter nach Hamburg – ohne Geld und ohne Hosentaschen, in denen er es aufbewahren könnte. Seine Schwester erzählt später, dass Bangladesh Airlines die einzige Fluglinie gewesen sei, die sich finanziell dazu bewegen liess, den Mann nur im Lendenschutz fliegen zu lassen.
Hamburg, 1985
Es schneit in der Hansestadt, und wer am Ballindamm an der Alster entlanggeht, wird manchmal einen halbnackten 47-jährigen Mann sehen, der unbeeindruckt von der Kälte barfuss spazieren geht. Die Freude über seine Rückkehr währt nicht lange. Der Mann, der von Philipp behauptet, er sei tot, hat Redezwänge und versucht die Menschen mit einem hypnotischen Blick gefügig zu machen. Seine Schwester nennt es: das böse Auge.
«Alle Frauen sind Schwestern, und mit allen Schwestern kann man vögeln.» Mit dieser Begründung macht er seiner leiblichen Schwester sexuelle Avancen. Manchmal lässt er in Gesellschaft anderer absichtlich seinen Penis aus seinem Lendenschutz hängen und freut sich über die Verkrampfung seines Umfelds. Er ist diskutierfreudig, doch wenn er in die Enge getrieben wird, droht er mit einem weiteren Schweigegelübde. Philipp macht sich einen Spass daraus, verheiratete Frauen zu verführen, um ihnen physisch zu demonstrieren, wie unglücklich sie doch in ihren Ehen seien.
Während der ersten drei Wochen, die er bei ihr unterkommt, stellt Marina ihm vier «gute Freunde» vor. Dr. Meyer-Wirtgen, Dr. Blankenburg, Dr. Bruder und Prof. Dr. Lindner kommen alle zu dem Schluss: stabile Schizophrenie, keine Suizidgefahr, keine Gefahr für die Gesellschaft.
Im März 1986, vier Monate nach seiner Rückkehr, ist er wieder weg. Im selben Jahr stirbt sein Vater, im darauffolgenden seine Mutter. Ihr Sohn und zweites Kind ist nicht aufzufinden. In den folgenden neun Jahren: nichts.
Madrid, 2018
Bevor ich nach dem Essen gehe, zu seinem Unwillen, will er noch, dass ich die drei Prioritäten in meinem Leben auf einen Zettel schreibe – BEVOR DU STIRBST. Irgendwie will ich nicht sterben, winke verlegen ab, sage lachend, dass ich ja noch nicht sterben wolle, bedanke mich zu oft und gebe ihm eine schnelle Umarmung. Dann raus in einen Madrider Winterabend, der sich wie eine lauwarme Badewanne anfühlt.
Zwei Tage später bin ich zurück. Langsame, bedachte Schritte durch den Innenhof, als könnte ich so Kontrolle aufbauen. Der Menschensohn lächelt dasselbe gütige Lächeln wie vor zwei Tagen. Ich bücke mich sofort und ziehe meine Schuhe aus, um ihm zu zeigen, dass ich mich erinnere, lerne aus dem Fehler, den ich nie gemacht habe. Er überschlägt die langen Beine und schneidet das Haar-Sack-Gehänge aus dem Blick. Ein kurzes Aufschnarchen nebenan beruhigt mich. Philipp erzählt von weiteren Strassenbekanntschaften, schreibt und schreibt, während jegliche Chronologie langsam verloren geht. Weitere Versuche, das Gespräch subtil zu lenken, scheitern.
Irgendwann zieht er aus einem Berg von Blättern und Zeitungen den Brief hervor, den ich ihm geschrieben habe, um mein Kommen anzukündigen. Ich habe mich der Einfachheit halber als einen der Enkel seiner Schwester und freien Autor vorgestellt. Er umkreist «freier» und schreibt daneben: DAVID DER GROSSE ANGEBER FREIER AUTOR. Auch das trifft mich zu meiner Überraschung. Ich fühle mich mickrig und dann noch mickriger, dass die Worte des nackten Mannes mich überhaupt beeinflussen. Ich spüre den Tadel meiner Grossmutter, die mir als Kind immer lange, schön geschriebene Briefe geschickt hat, um mir nach einem Treffen darzulegen, in welchen Instanzen mein Verhalten richtig und in welchen es falsch war. Das Menschenwesen ist als Entlarver aller Rollen so effektiv, weil er selber keine spielt. NACH DEM TOD DES GROSSEN ANGEBERS DAVID KANNST DU VIELLEICHT ANFANGEN ZU LEBEN. Da er, was selten passiert, innehält, nicht weiterschreibt und mich prüfend anblickt, sage ich aus Verlegenheit: «Da hast du vielleicht recht.» Der Menschensohn riecht fehlende Überzeugung. Überhaupt ist ein «Vielleicht» gegenüber seinem Absolutismus ein Affront. STOP YOUR (DIS)AGREEMENTS WHICH ARE ONLY VERBAL NOISE. Dann deutet er mit seinem Zeigefinger mehrmals grob in sein Gesicht, will, dass ich ihm in die Augen schaue. Wir starren uns ungefähr zehn Minuten ununterbrochen an. Er blinzelt kaum. Sein linkes Auge trägt einen menschlichen Blick in sich, sein rechtes ist das eines lauernden Tieres. Das böse Auge, wie meine Grossmutter es nannte. Ich denke mir: Na komm schon, ich mach dich fertig, blinzle lange nicht, bis er es vor mir tut. Gewonnen. Irgendwann unterbricht er den Augenkontakt, indem er die Lider lange und bedeutungsschwanger schliesst. Er öffnet sie, durchstreicht ANGEBER, zeichnet ein kleines Kreuz und das heutige Datum daneben und schreibt: HAPPY DEATH-DAY TO YOU. Ein Triumph. Er lacht ein stummes, diesmal freudiges Lachen. Ich fühle mich schlagartig gut, scheine in seiner Gunst gestiegen, was sich auch daran zeigt, dass er wieder dazu übergeht, Anekdoten aufzuschreiben, die er mich laut vorlesen lässt. Philipp propagiert das, was er vermeintlich selber erreicht hat: den Tod der eigenen, von der Gesellschaft korrumpierten Identität. Ich scheine diesem näher gekommen zu sein.
Madrid, 1995
Eine unbekannte Frau ruft Marina in Hamburg an. Ihr Bruder lebe mittlerweile in Madrid mit einer spanischen Frau namens Mercedes. Er trage jetzt normale Klamotten und würde sich freuen, sie wiederzusehen. Als Marina ihn wenige Monate später besucht, merkt sie, dass er Angst hat, wieder auf der Strasse zu landen. Er ist die letzten sechs Jahre durch Spanien gewandert und wurde in dieser Zeit mehrmals verhaftet und sechsmal zwangseingewiesen. In einer Psychiatrie in Cordoba verabreichten die Ärzte ihm gegen seinen Willen die Psychopharmaka Haloperidol und Chlorpromazin. Marina schafft es, ihn zu überzeugen, nach 23 Jahren sesshaft zu werden, und mietet ihm auf seinen Wunsch eine kleine Zweizimmerwohnung in Malasaña, einem damals noch verruchten Drogen- und Schwulenviertel. Eine ältere Frau aus dem Haus versorgt ihn von dem Geld seiner Schwester mit Lebensmitteln, da er seit 1972 kein Geld anfasst. Immer wieder schafft er es, Zahnärzte zu überzeugen, ihn umsonst zu behandeln.
Von messianischen Ideen der Weltrettung getrieben, ist der Menschensohn viel auf den Strassen Madrids unterwegs. Oft zieht er Flöte spielend durch die Nacht, nimmt jeden zu sich nach Hause, der gewillt ist, ihm zuzuhören – Touristen, Paare, Studenten, Pilger, Künstler, Penner, Prostituierte, Geisteskranke, Drogenabhängige. Dabei treibt ihn auch der Zwang, jede Mahlzeit teilen zu müssen.
Im Monatstakt lässt er verschiedene Strassenbekanntschaften seine Schriften und Zeichnungen an seine Schwester weiterleiten. Er will, dass Marina die Blätter kopiert und in die Welt hinausträgt. Er legt seinen nummerierten Briefen vermehrt Peniszeichnungen bei – Penisse, die aus Vaginen wachsen, Penisbäume, Penisgesichter, eine Penisqualle. Eine Zeichnung tauft er The One Eyed Triple Cunt, eine andere The Cuntree of Mankind. Er geht zu politischen und wissenschaftlichen Symposien, ist Dauergast im Prado, im Institut Français und im Goetheinstitut, wo er immer wieder Vorträge unterbricht und Pässe für die Space Station Earth verteilt. Den deutschen Botschafter ermahnt er auf einem Zettel: Der Mensch ist keine Dienstsache. Anlässlich einer Buchpräsentation von Verachtung der Massen übergibt er nach eigenen Angaben Peter Sloterdijk ein Stück Papier, das ihm die volle Verantwortung aufträgt, zu verhindern, dass die Welt sich selber zerstört. Sloterdijk habe genug verstanden, um nicht noch mehr Bücher zu schreiben. Auch seinen Lehrstuhl für «Vielosoviel» solle er aufgeben.
Zeichnungen des “Menschenwesens” für seine Schwester.